Meine Damen und Herren, was die privaten Krankenkassen vorschlagen, ist ein völlig durchsichtiger Versuch, noch stärker als bisher die finanzstarken Einzahler aus der gesetzlichen Krankenversicherung zu holen und die Entsolidarisierung unseres ohnehin völlig absurden zweigeteilten Finanzierungssystems auf die Spitze zu treiben. Dieses System ist frauenfeindlich, weil Frauen höhere Prämien zahlen. Es ist familienfeindlich, weil Kinder eigenständig versichert werden müssen.
Nun könnte man sagen, dies sei ein schöner Versuch der privaten Krankenkassen, sich wichtig zu machen, um die Bürgerversicherung zu verhindern, und wir legen das auf den Müllhaufen der Geschichte. Dem ist aber leider nicht so. Denn wir haben noch die FDP, die in ihrem Wunsch, sich in der politischen Diskussion irgendwie zu Wort zu melden, um wahrgenommen zu werden, ihren Parteitag durchgeführt hat. Sie schlägt ganz im Sinne der privaten Kassen die Zerschlagung der jetzigen Versicherung vor. Sie schlägt die völlige Privatisierung der Krankenkassen und die völlige Auslieferung an die Kapitalmärkte vor. Meine Damen und Herren, ich habe zunehmend den Ein
druck, dass die FDP absichtlich versucht, den Menschen in diesem Land Angst und Schrecken einzujagen, und zwar einzig und allein um die eigene Lobby, die privaten Kassen, die als Lobbyisten der FDP auftreten, zu versorgen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abg.Andrea Ypsilanti (SPD) – Nicola Beer (FDP): Um Wahlfreiheit zu gewähren!)
Meine Damen und Herren, mit einem Haufen von Freiheitsbegriffen verbrämt – wie es gerade eben der Kollege Rentsch wieder getan hat –, wird uns Unglaubliches zugemutet, weit entfernt von jeglicher Kompetenz.
Erstens. Gerade unter dem Aspekt der Demographie ist es unter Wirtschafts- und Finanzexperten im Moment extrem umstritten, wie sich die demographische Entwicklung auf die Kapitalmärkte auswirken wird,
Das heißt, Sie wollen auf gut Glück die insgesamt 80 Millionen Menschen in Deutschland dem Kapitalmarkt ausliefern. Einige, die in den letzten fünf Jahren Aktien gekauft haben, wissen, was auf diesem Markt passieren kann.
Zweitens.Wir wissen aus den USA, wo eine private Versicherung der Regelfall ist, dass 25 % der armen und alten Menschen völlig unzureichend versichert sind und dass die Beiträge und das Leistungsspektrum der privaten Kassen so unterschiedlich sind, dass zum Teil noch nicht einmal mehr eine freie Arztwahl möglich ist. Wegen der hohen Prämien des US-Systems sind sogar viele Menschen mit mittlerem Einkommen hoffnungslos unterversichert. Im Krankheitsfall rutschen sie unter die Armutsgrenze.
Als das Unternehmen Enron Pleite ging, haben Millionen von Amerikanern ihren Versicherungsschutz ganz verloren.
Drittens. Wir brauchen gar nicht in die Ferne zu schweifen: Im November letzten Jahres hat die Kreditbewertungsagentur Fitch die privaten Kassen in Deutschland unter die Lupe genommen. Sie hat festgestellt, dass die privaten Kassen eine Kapitalzufuhr von 3 bis 5 Milliarden c brauchten, um wieder über eine ausreichende Kapitalausstattung zu verfügen. Sechs private Kassen, darunter meine Kasse, hatten sich an den Kapitalmärkten so verspekuliert, dass das Eigenkapital im Prinzip aufgezehrt war.
Viertens. Bei einer reinen Kapitalversicherung hat ein Versicherter überhaupt keine Gewähr mehr, dass bei einer unzureichenden Verzinsung der Einzahlungen im Alter nicht üppige Prämienerhöhungen drohen. Darauf hat der Versicherte überhaupt keinen Einfluss. Er ist der Entwicklung hilflos ausgeliefert.
Sie sehen, dass selbst unter finanztechnischem Blickwinkel von Ihrer Privatisierungsorgie nur ein lächerlicher
Auch versicherungstechnisch sind Sie den Hochglanzbroschüren der privaten Kassen gefolgt, nicht dem normalen Menschenverstand. Es ist zwar schön, dass die FDP endlich will, dass die privaten Kassen am Wettbewerb teilnehmen. Auch wir sind dafür, denn dank der jahrzehntelangen Bemühungen der FDP sind im Gesundheitswesen ganze Branchen vom Wettbewerb ausgenommen gewesen. Ich nenne nur die Apotheker, die niedergelassenen Fachärzte und die privaten Kassen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Florian Rentsch (FDP): Immer noch besser als „Hier bedienen Sie die GRÜNEN“!)
Die von Ihnen geforderte und gerade vorgestellte private Basisversicherung, ergänzt durch Zuzahlungen im Krankheitsfall, verschärft ohne jede Not die sozialen Belastungen, die bereits heute in der gesetzlichen Krankenversicherung bestehen. Frauen werden bei Ihnen nur im Basistarif von höheren Zahlungen verschont sein. Der Wechsel älterer Versicherter ist – wie schon heute – im System nicht vorgesehen.Von wegen,Wettbewerb.
Mit keinem einzigen Wort wird erwähnt,auch heute nicht, wie die notwendigen staatlichen Transfers für einkommensschwache Personen, aber insbesondere für Familien aufgebracht werden sollen. Wenigstens die CDU/CSU ist ernsthaft dabei, diese Frage zu diskutieren – seit der letzten Woche so ernsthaft, dass der Ministerpräsident bereits auf Distanz zum Modell der Kopfpauschalen und damit zu Gesundheitsministerin Lautenschläger geht. Die FDP aber meint, weder im heutigen Antrag noch in der gesamten Debatte, weder auf dem Parteitag noch im Parteitagsbeschluss überhaupt etwas zur Finanzierung der Transferleistungen sagen zu müssen. Damit ist das nicht nur ein lächerlicher Versuch der Wichtigtuerei, sondern es ist ein politisch zutiefst unseriöser Vorschlag.
Heiner Geißler – den ich, wie Horst Seehofer, an dieser Stelle immer wieder gerne zitiere, weil beide, obwohl Mitglieder der CDU/CSU, für die Bürgerversicherung sind – kritisiert zu Recht: Es ist die Gier nach Geld, die die Gehirne regelrecht zerfrisst. – Er kann damit die FDP gemeint haben.
Das darf nicht zum Prinzip politischen Handelns werden. Genau deshalb gehört der FDP-Vorschlag auf den Müllhaufen der Geschichte des Sozialstaats – und zwar fix.
Meine Damen und Herren, worum geht es eigentlich? Worüber diskutieren wir? Was ist der Anlass, dass wir hier diskutieren? Die Sozial- und Gesundheitspolitik in diesem Lande muss endlich die Interessen und Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger und darf nicht die der Lob
byisten in den Mittelpunkt des Handelns stellen. Aus der Sicht der modernen Gesundheitspolitik ist der Mensch ein ganzheitliches Wesen mit Stärken und Schwächen, mit Mängeln und Kompetenzen.
Oberstes Ziel muss es deshalb sein, seine Fähigkeit zu stärken, gesund zu bleiben. Das kostet Mühe und Geld. Unser bisheriges Gesundheitssystem überlässt dem Individuum die Mühe und gibt das Geld den Dienstleistern. Deshalb brauchen wir eine Reform des Denkens und des Systems,die sich nicht allein nach Angebot und Nachfrage im Krankheitsfall ausrichtet. Deutschland ist gerade deshalb im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung im internationalen Vergleich so weit hinten, weil es außer den Bürgerinnen und Bürgern keine Akteure gibt, die an der dauerhaften Gesunderhaltung ein finanzielles Interesse haben.Um diesen grundsätzlichen Webfehler zu beseitigen, brauchen wir eine sozial gerechte und alle umfassende Bürgerversicherung.
Wir brauchen nicht mehr Geld im System, sondern wir brauchen ein neues System der Gesundheitsversorgung, bei dem der Anreiz auf der Gesunderhaltung und nicht auf der Leistungserstattung liegt. Mit dem weltweit einzigartigen Unfug, dass sich Menschen mit höherem Einkommen aus der solidarischen Finanzierung verabschieden können, muss endlich Schluss sein.
Die bereits erwähnten 6 Millionen freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten zeigen, dass viele Menschen tatsächlich bereit sind, solidarisch zu sein. Also: alle in Deutschland Lebenden in die Bürgerversicherung – gemäß ihrem Einkommens, egal, wie sie es erwirtschaften. Deshalb ist für uns der entscheidende politische Punkt,im Sinne der Bürgergemeinschaft und des Zusammenlebens der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes die Versicherungspflichtgrenze aufzuheben.
Ganz wesentlich ist für uns außerdem, dass tatsächlich jede Bürgerin und jeder Bürger eigenständig versichert ist. Das gilt also auch für Ehepaare und Familien. Für Einkommen aus abhängiger Beschäftigung halten wir die Beibehaltung der paritätischen Finanzierung für notwendig – nicht nur unter dem Aspekt der Qualität der Arbeitsplätze, sondern weil wir denken, dass es durchaus möglich sein sollte,dass Betriebe,die sich an betrieblichen oder regionalen Gesundheitsförderungsprogrammen beteiligen, über Bonusprogramme belohnt werden können.
Wir sind für ehrlichen Wettbewerb zwischen einer Vielfalt von Kassen und Kassenarten. Das heißt, die Bürgerinnen und Bürger müssen endlich das Recht erhalten, zwischen den verschiedenen Kassen tatsächlich wählen und vor allem wechseln zu können. Das ist in der bestehenden PKV nicht der Fall.
Niemand hindert die privaten Kassen, sich in den Wettbewerb zu begeben. Aber das Rosinenherauspicken, wie es zurzeit erfolgt, kann so nicht weitergehen. Das heißt, die privaten Kassen kommen in den Risikostrukturausgleich, und es wird keine Risikoprämien mehr geben.
(Florian Rentsch (FDP):Auch Sie sind Mitglied einer privaten Krankenversicherung? Ist das für Sie ein Problem? – Nicola Beer (FDP):Warum sind Sie nicht freiwillig gesetzlich versichert? Das wird doch einen Grund haben!)
Herr Rentsch, wenn wir uns in Europa einmal umsehen – der Sozialpolitische Ausschuss hat vielleicht bald Gelegenheit dazu –, dann sehen wir: Es gibt bereits eine ganze Reihe von bürgersolidarischen Versicherungen. Sie sind von dem Prinzip geleitet, dass die Bürgerinnen und Bürger das Recht auf eine angemessene Versorgung und Absicherung im Krankheits- und Pflegefall sowie im Alter haben. Sie gehen von dem Prinzip aus, dass diejenigen, die mehr Einkommen zur Verfügung haben,diejenigen unterstützen, die weniger Einkommen haben.Von diesem Prinzip wollen wir nicht abweichen. Wir wollen nicht weiter den privaten Kassen die Möglichkeit geben, die Bezieher hoher Einkommen von Solidarleistungen zu befreien.
Die freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten sind ein handfester Beweis dafür, dass viele Menschen zur Solidarität bereit sind.